Ohne Pathos hielt Evelyn Richter jahrzehntelang Alltagsszenen aus der DDR fotografisch fest. Sie knipste mit einer normalen Kleinbildkamera, weil ihr bei ihrer ersten Auslandsreise nach Moskau die Mittelformat-Kamera kaputt ging. Also machte sie aus der Not eine Tugend, lernte die Freiheiten des billigern und alltagstauglichen Kleinformats schätzen und blieb fürderhin dabei.
Ihre Motive: Menschen. Reisende auf ihrer Lebensreise, in allen erdenkbaren Situationen: Reisende im Zug, in der S-Bahn, Arbeiterinnern hinter großen Maschinen. Ihr Blick auf ungeschönte Arbeitswelten brachte ihr beileibe nicht nur Lob ein. Müde Arbeiterinnen hinter einem Webstuhl, unaufgeräumte Werkshallen, Schirme, die die Maschinen vor Regen schützen mussten, weil das Dach offensichtlich undicht war. Ohne Heroik fiel sie beim Arbeiter- und Bauernstaat fast durch. Aber eben nur fast. Zum Glück, können wir heute sagen. Denn durch Richters Kameralinse können wir heute den DDR-Alltag posthum miterleben.
Schon das allererste Foto der Ausstellung hat mich beeindruckt: Am Eingang fällt der der Blick wie aus einem Hauseingang auf das Haus auf der anderen Straßenseite – und auf eine einsame Verkäuferin von Softeis.
Am Tag des Mauerbaus war Evelyn Richter – die in Bautzen geboren wurde und vergangenes Jahr in Dresden mit 91 Jahren verstarb – zufällig in Berlin. Sie ignorierte das Fotografierverbot, schoss aus der Hüfte heraus und bescherte uns Zeitzeugnisse. Beim Betrachten der fassungslosen Passanten vor einer Phalanx an Panzern bekomme ich Gänsehaut. Und natürlich lässt sie den Betrachter auch den Zusammenbruch der DDR durch ihre Linse miterleben, indem sie mit ihren Studenten die Montagsdemos festhielt.
Ob Druckmaschine, Weberei, Pförtnerin oder Chriurgin – die weibliche Arbeitswelt war immer wieder Thema von Richters Fotografieren:
Evelyn Richter hatte durch ihre Aufträge auch Zugang zu vielen Prominenten der DDR. So porträtierte sie Werner Tübke (der mit dem riesigen Paanorama-Monumentalbild in Bad Frankenhausen) und Wolfgang Mattheuer. Die beiden Mitglieder der sogenannten „Leizpiger Schule“ ebneten den Weg für Neo Rauch & Co. Mir gefällt auch das Bild von Gret Palucca, dem Dresdner Pendant der Wuppertalerin Pina Bausch.
Die Ursprünge von Kunst und Inspiration interessierten Evelyn Richter. Gepaart mit ihrer Liebe zu Musik bannte sie immer wieder Musiker auf ihre Bilder. Meist im Auftrag des staatlichen Musikverlags für Plattencover. Die hängen wie ein großes Memory an einer Wand.
Super ist, dass Evelyn Richters Bücher nicht nur in Vitrinen ausgestellt sind, sondern man auch in ihren blättern kann – so wie es diese Besucherin hier macht, der ich über die Schulter fotografieren durfte:
Der letzte Raum ist „Menschen in Ausstellungen“ gewidmet – da musste ich doch den Fotografen beim Fotografieren aufs Bild bannen:
Kurz vor ihrem Tod erhielt die damals 90-Jährige im Jahr 2020 den erstmals ausgelobten Bernd und Hilla Becher-Preis der Stadt Düsseldorf für ihr Lebenswerk. Er war die erste große Anerkennung ihres Schaffens im Westen.
Und nun ebenfalls in Düsseldorf die erste große Retrospektive des umfangreichen Werks von Evelyn Richter im Westen. Der Kunstpalast hat ihren Werken allein schon dadurch mehr Gewicht verliehen, weil sie gleichzeitig zur von mir in einem Blog-Beitrag vor zwei Wochen beschriebenen großen „Christo-Ausstellung“ stattfindet und mit dem gleichen Eintrittsticket anzusehen ist. „Wir Deutschen sind doch Sparfüchse, da werden die meisten Besucher sicherlich auch die zweite Ausstellung anschauen, wenn sie für Christo hergekommen sind“, mutmaßte Kunstpalast-Direktor Felix Krämer anlässlich der Pressepräsentation.
Bei mir war es genau umgekehrt: Mit Christo habe ich mich in den vergangenen Jahren reichlich beschäftigt, doch der Name Evelyn Richter war mir unbekannt – und gerade deshalb musste ich mir die Ausstellung anschauen. Fazit: Hingehen! Zeit mitbringen – und vor allem genau hinschauen! Diese Ausstellung lohnt sich für alle Foto-Fans. Nicht nur, aber auch für diejenigen, die sich für die Zeiten des geteilten Deutschlands und die Lebensumstände in der DDR interessieren. Denn hier „tief im Westen“ gab es dorthin nicht allzu viele Berührungspunkte.
Die Ausstellung ist bis zum 08. Januar 2023 im Museum Kunstpalast im Ehrenhof zu sehen. https://www.kunstpalast.de/richter
Wenn Sie nun Interesse daran gefunden haben, Düsseldorfs Kunstwerke mit mir zu erkunden – gerne führe ich Sie! Kontaktieren Sie mich einfach…